Wohnungswirtschaft oder Baugewerbe? Beitragspflicht zu SOKA-BAU, BAG Urteil 10 AZR 267/23
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 23. Oktober 2024 befasst sich mit der Beitragspflicht eines Unternehmens gegenüber den Sozialkassen der Bauwirtschaft. Die Entscheidung klärt die Abgrenzung zwischen Tätigkeiten im Baugewerbe und solchen in der Wohnungswirtschaft, insbesondere im Kontext von Verbändevereinbarungen und den damit verbundenen Beitragspflichten. Dieses Urteil hat erhebliche Bedeutung für Unternehmen, die im Grenzbereich dieser Branchen operieren, da es die Kriterien für die Zuordnung zu den Sozialkassen präzisiert.
Sachverhalt: Inwieweit können Unternehmen der Wohnungswirtschaft von der Beitragspflicht zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft ausgenommen werden?
Die Beklagte war operativ als Baudienstleister innerhalb eines Konzerns tätig. Ihr Tätigkeitsfeld umfasste verschiedene baugewerbliche Arbeiten wie Fliesen-, Platten- und Mosaikverlegearbeiten, Maurerarbeiten, Stuck-, Putz- und Gipsarbeiten sowie Trocken- und Montagebauarbeiten. Diese Arbeiten wurden im Rahmen konzerninterner Leistungen erbracht, wobei die Beklagte Bauprojekte für andere Konzerngesellschaften durchführte. Sie koordinierte und verwaltete den Einsatz von über 1.200 gewerblichen Arbeitnehmern und war für die Lohnbuchhaltung sowie die Budgetverwaltung zuständig. Zudem war sie als GmbH verpflichtet, betriebswirtschaftliche Standards einzuhalten, einschließlich der Bilanzerstellung nach § 264 HGB. Die erbrachten Bauleistungen wurden zu festen Verrechnungspreisen abgerechnet.
Der Kläger, eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien, forderte von der Beklagten Beiträge für 1.235 gewerbliche Arbeitnehmer und 137 Angestellte in Höhe von insgesamt 7.123.946,43 Euro für das Jahr 2020. Die Beklagte war Mitglied im Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. (GdW) und berief sich auf eine Verbändevereinbarung mit dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V. (ZDB), die bestimmte Tätigkeiten von der Beitragspflicht ausnehmen sollte.
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt, und das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Die Beklagte legte daraufhin Revision ein und beantragt weiterhin die Abweisung der Klage.
Entscheidung des BAG
Das BAG entschied, dass die Beklagte beitragspflichtig gegenüber den Sozialkassen der Bauwirtschaft ist. Die Entscheidung beruht auf folgenden Kernaussagen:
Maßgeblichkeit der tatsächlichen Tätigkeit für die Beitragspflicht
Ein Unternehmen gilt als dem Baugewerbe zugehörig und damit beitragspflichtig, wenn mehr als 50 % der betrieblichen Gesamtarbeitszeit auf baugewerbliche Tätigkeiten entfallen.

Die tatsächlich ausgeführten Arbeiten der Beklagten – Fliesen-, Platten- und Mosaikverlegearbeiten, Maurerarbeiten, Stuck-, Putz- und Gipsarbeiten sowie Trocken- und Montagebauarbeiten – fallen unter § 1 Abs. 2 und Abs. 5 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV).
Nicht entscheidend für die Beitragspflicht ist die Branchenzugehörigkeit oder Mitgliedschaft in einem bestimmten Verband, sondern ausschließlich die Art der erbrachten Tätigkeiten. Selbst wenn ein Unternehmen primär in der Wohnungswirtschaft tätig ist, unterliegt es der Beitragspflicht, wenn seine konkreten Tätigkeiten dem Baugewerbe zuzurechnen sind.
Unwirksamkeit der Verbändevereinbarung
Die Beklagte berief sich auf eine Verbändevereinbarung zwischen dem GdW (Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V.) und dem ZDB (Zentralverband des Deutschen Baugewerbes e.V.), wonach bestimmte Tätigkeiten von Wohnungsunternehmen von der Beitragspflicht befreit sein sollten. Das BAG stellte jedoch fest, dass eine solche Vereinbarung tarifrechtlich unwirksam ist, weil
- tarifliche Geltungsbereiche nicht durch private Vereinbarungen von Verbänden verändert oder aufgehoben werden können,
- eine Verbändevereinbarung keine tarifliche Normqualität besitzt, da sie keinen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag darstellt und
- die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags nicht durch privatwirtschaftliche Absprachen umgangen werden kann.
Eine solche Vereinbarung könnte zudem gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, weil sie bestimmten Unternehmen eine einseitige Befreiung von einer gesetzlichen oder tariflichen Verpflichtung ermöglicht.
Keine Ausnahmeregelung für Wohnungsunternehmen
Die Beklagte argumentierte, dass sie sich als Wohnungsunternehmen auf eine Sonderregelung berufen könne. Doch das BAG machte deutlich:
Wohnungsunternehmen sind nicht automatisch von der Beitragspflicht befreit, wenn sie Tätigkeiten ausführen, die dem Baugewerbe unterfallen. Eine solche Ausnahme müsste ausdrücklich und tariflich geregelt sein, was hier nicht der Fall war. Selbst wenn ein Unternehmen hauptsächlich im Bereich der Wohnungsbewirtschaftung tätig ist, bleibt es beitragspflichtig, wenn es Bauarbeiten ausführt.
Gewinnerzielung innerhalb des Konzerns
Das BAG stellte weiter fest, dass die Beklagte ihre Bauleistung – wenn auch zu vorgegebenen Verrechnungspreisen – entgeltlich erbracht hatte. Die dadurch erzielte Wertschöpfung kam zwar nicht unmittelbar der Beklagten, sondern anderen Gesellschaften zugute, welche die Immobilien gewinnbringend nutzen konnten bzw. genutzt haben. Ihre Leistungen dienten damit der Gewinnerzielung innerhalb des Konzerns.
Hierzu stellte das BAG fest, dass eine Gewinnerzielungsabsicht auch dann vorliegt, wenn der wirtschaftliche Vorteil nicht unmittelbar beim Unternehmen selbst, sondern bei verbundenen Konzernunternehmen entsteht. Dementsprechend hat auch das BAG im Rahmen konzerninterner Arbeitnehmerüberlassung die Erzielung eines mittelbaren wirtschaftlichen Vorteils für das Bestehen einer Gewinnerzielungsabsicht ausreichen lassen. Es hat eine gewerbsmäßige Überlassung von Arbeitnehmern nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG aF angenommen, wenn nicht dem Verleiher selbst, sondern dem konzerninternen Entleiher oder der Konzernmutter der wirtschaftliche Vorteil aus der Arbeitnehmerüberlassung zukommt. Dies gilt etwa dann, wenn ein konzernzugehöriges Unternehmen Arbeitnehmer einstellt, um sie an andere Konzernunternehmen zu Bedingungen zu überlassen, die für diese Unternehmen mit geringeren Kosten verbunden sind, als wenn sie die Arbeitnehmer selbst einstellten.
Allgemeinverbindlicherklärung vom Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV)
Das BAG betonte die Bindungswirkung des VTV, der durch Allgemeinverbindlicherklärung eine unabdingbare Verpflichtung für alle Unternehmen des Baugewerbes darstellt. Weder die Mitgliedschaft in einem Wohnungsverband noch eine private Vereinbarung mit einem Bauverband kann dazu führen, dass ein Unternehmen von einer tariflich normierten Pflicht ausgenommen wird.
Bedeutung des Urteils
Das Urteil verdeutlicht, dass für die Beitragspflicht zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft die tatsächlichen betrieblichen Tätigkeiten maßgeblich sind, unabhängig von Verbändevereinbarungen oder Mitgliedschaften in bestimmten Verbänden. Unternehmen können nicht allein durch solche Vereinbarungen von der Beitragspflicht ausgenommen werden, wenn ihre Tätigkeiten objektiv unter den Geltungsbereich des VTV fallen. Dies hat weitreichende Folgen für Unternehmen, die in Bereichen tätig sind, die sowohl dem Baugewerbe als auch der Wohnungswirtschaft zugeordnet werden könnten.
Fazit

Unternehmen sollten ihre betrieblichen Tätigkeiten sorgfältig analysieren, um festzustellen, ob sie unter den Geltungsbereich des VTV fallen und somit beitragspflichtig gegenüber den Sozialkassen der Bauwirtschaft sind. Mitgliedschaften in bestimmten Verbänden oder Verbändevereinbarungen bieten keine Garantie für eine Befreiung von der Beitragspflicht, wenn die tatsächlichen Tätigkeiten dem Baugewerbe zuzuordnen sind. Arbeitgeber sollten daher ihre Tätigkeitsfelder und die entsprechenden tariflichen Regelungen genau prüfen, um rechtliche und finanzielle Risiken zu minimieren.
Zu diesen und anderen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Zögern Sie nicht und nehmen Sie Kontakt auf. Frau Rechtsanwältin Tseja Tsankova-Herrtwich hilft Ihnen gerne auch bei allen anderen Fragen rund um die Themen Fremdpersonaleinsatz, insbesondere in Form von Arbeitnehmerüberlassung. Darüber hinaus berät Sie Frau Tsankova-Herrtwich bei Fragen bezüglich Entsendungen, SOKA-Bau und Lebensmittelrecht. Sie unterstützt Sie im Falle von Sanktionen durch Behörden (Bußgeldbescheid etc.) und vertritt Sie sowohl gegenüber der Bundesagentur für Arbeit als auch, im Falle eines strafrechtlichen Vorwurfs, gegenüber Zoll oder Staatsanwaltschaft sowie vor Gerichten. Wenden Sie sich an Frau Rechtsanwältin Tsankova-Herrtwich, wenn Sie sich vor den möglichen Risiken einer nicht rechtskonformen Durchführung Ihrer Tätigkeit absichern wollen. Sie erreichen sie per E-Mail (info@protag-law.com) und telefonisch unter 06221 338 63 – 0.