Vertragsverletzungsverfahren gegen Belgien aufgrund der nationalen Regelungen über Bekämpfung des Entsendebetrugs, EuGH Urteil vom 11.07.2018 – C-356/15
Ähnlich wie im Urteil von EuGH C-359/16 entschied der EuGH am 11. Juli 2018 über das Verfahren der Bekämpfung gegen die betrügerische Ausstellung von A1 Bescheinigungen. Im vorliegenden Fall handelte sich jedoch um eine Vertragsverletzungsklage, die die Europäische Kommission gemäß Art. 258 AEUV gegen das Königreich Belgien eingelegt hatte. Mit ihrer Klage begehrte die Europäische Kommission die Feststellung, dass das Königreich Belgien mit den Art. 23 und 24 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2012 gegen seine Verpflichtungen aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstoßen hat.
Die angesprochenen Vorschriften des belgischen Programmgesetzes
Art. 23
„Im Hinblick auf die in den europäischen Koordinierungsverordnungen enthaltenen Regeln zur Bestimmung des anwendbaren Rechts liegt ein Missbrauch vor, wenn bei einem Arbeitnehmer oder einem Selbstständigen Vorschriften der Koordinierungsverordnungen auf einen Sachverhalt angewandt werden, deren Voraussetzungen, wie sie in den Verordnungen festgelegt und im Leitfaden oder in den Beschlüssen der Verwaltungskommission präzisiert sind, nicht erfüllt sind, um sich den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit, die auf den Sachverhalt hätten angewandt werden müssen, wenn die genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften beachtet worden wären, zu entziehen.“
Art.24
„(1)Stellt ein nationales Gericht, eine öffentliche Einrichtung für soziale Sicherheit oder ein Sozialinspektor einen Missbrauch im Sinne des vorherigen Kapitels fest, werden auf den betreffenden Arbeitnehmer oder Selbstständigen die belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit angewandt, die nach den in Art.22 genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften hätten angewandt werden müssen.
(2)Die belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit finden ab dem Tag Anwendung, an dem ihre Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind…“
Der EuGH gab der Klage statt und stellte fest, dass das Königreich Belgien gegen Art. 11, Art. 12 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung 987/2009 verstoßen hat.
Anwendung der Vorschriften nur eines Mitgliedstaates
In seiner Begründung brachte der EuGH zum Ausdruck, dass laut Art. 11 der Verordnung 883/2004 Personen, für die diese Verordnung gilt, grundsätzlich den Vorschriften nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen. Auf den entsandten Arbeitnehmer sind auch laut Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anwendbar, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, und nicht die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in den der Arbeitnehmer entsandt ist.
Bindung der A1-Bescheinigung
Hierzu stellen die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, dem entsandten Arbeitnehmer die A1-Bescheinigung aus, mit der bescheinigt wird, dass er in diesem Mitgliedstaat versichert ist. Laut Art. 5 Abs. 1 der Verordnung 987/2009 ist die A1-Bescheinigung so lange verbindlich, bis sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, widerrufen oder für ungültig erklärt wird.
Wenn durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich der Verordnung in Frage gestellt werden, setzt sich der Träger des zuständigen Mitgliedstaats oder des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person nach Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats in Verbindung.
In Bezug auf die belgischen Vorschriften stellte der EuGH fest, dass keine Bestimmung der Verordnung Nr. 883/2004 oder der Verordnung 987/2009 eine Ermächtigung der Mitgliedsaaten enthält, bei einem Betrug oder Missbrauch unilateral durch ein Gesetz die Nichtanwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorzusehen.
Notwendigkeit eines Dialogs zwischen den betroffenen Trägern der Mitgliedstaaten
Hierbei betonte der EuGH die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen den Trägern der betroffenen Mitgliedstaaten. Zunächst legt der Träger des Mitgliedstaates, in den die Arbeitnehmer entsendet wurden, dem Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, konkrete Beweise vor, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden. Danach hat der ausstellende Träger gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit anhand dieser Beweise erneut zu prüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen.
Möglichkeit einer Überprüfung durch das nationale Gericht
Wenn eine solche Überprüfung innerhalb einer angemessenen Frist nicht vorgenommen wird, müssen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, die betreffenden Bescheinigungen außer Acht lässt.
Nichtberücksichtigung der Entsendebescheinigung nur im Rahmen des Gerichtsverfahrens
In Bezug auf die belgischen Vorschriften, stellte der EuGH fest, dass sie nicht nur keinerlei Verpflichtungen zur Einleitung des Dialog- und Vermittlungsverfahrens vorsehen. Vielmehr wird nicht allein dem nationalen Richter die Befugnis eingeräumt, darüber zu entscheiden, ob ein Betrug vorliegt, und eine A1-Beschenigung deshalb außer Acht zu lassen ist. Laut der Regelung können auch die belgischen öffentlichen Einrichtungen für soziale Sicherheit und die belgischen Sozialinspektoren ohne Gerichtsverfahren entscheiden, dass ein entsandter Arbeitnehmer den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegt. Dies ist nicht mit dem EU-Recht vereinbar.
Aus oben genannten Gründen entschied der EuGH, dass das belgische Königreich gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 997/2009 verstoßen hat.
Fazit
Für die Praxis bedeutet dieses Urteil, dass die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung weiterhin für alle Betroffenen erhalten bleibt. Falls der Träger des Mitgliedstaates, in den ein Arbeitnehmer entsandt wird, Beweise hat, dass die A1-Bescheinigung betrügerisch erlangt wurde, muss der letzter sich erst mit dem Träger des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmer gewöhnlich tätig ist, im Rahmen des Dialog- und Vermittlungsverfahrens in Verbindung setzen. Erst wenn dieses Verfahren gescheitet ist, kann das nationale Gericht über die Bindungswirkung der A1-Bescheinigung entscheiden.