Kein Anspruch eines Zeitarbeiters auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses bei langfristiger Überlassung, EuGH Urteil vom 17.03.2022, C-232/20

Sachverhalt: Hat ein Zeitarbeiter einen Anspruch auf die Begründung eines Arbeitsverhältnisses bei einer Überlassung, die nicht mehr als vorübergehend anzusehen ist?

Im vorliegenden Fall ging es um die Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG. Die Parteien stritten über die Begründung eines Arbeitsverhältnisses. Der Zeitarbeiter war seit September 2014 bei einem Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt und wurde bis Mai 2019 mit Ausnahme eines zweimonatigen Elternurlaubs ununterbrochen der Daimler AG überlassen. Er wurde dort dauerhaft in der Motorenfertigung eingesetzt. Die Beschäftigung diente nicht der Vertretung eines Arbeitnehmers der Daimler AG.

Zeitarbeit spielt in der Metallbranche eine große Rolle

Mit der erhobenen Klage vor dem Arbeitsgericht Berlin begehrte der Zeitarbeiter die Feststellung, dass zwischen ihm und der Daimler AG seit dem 1. September 2015 und hilfsweise seit anderen Zeitpunkten ein Arbeitsverhältnis bestünde.

Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage ab, woraufhin der Zeitarbeiter Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einlegte.

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH fünf Fragen zur Vorabentscheidung vor.

Entscheidung des EuGH: Aus dem Unionsrecht ergibt sich kein Anspruch des Zeitarbeiters auf die Begründung eines Arbeitsverhältnisses

Ist eine Überlassung vorübergehend, wenn der Arbeitsplatz des Zeitarbeiters dauerhaft vorhanden ist?

Zunächst stellte das vorlegende Gericht die Frage, ob die Überlassung eines Zeitarbeiters als vorübergehende im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der RL 2018/104/EG betrachtet werden kann, wenn der Arbeitsplatz des Zeitarbeiters dauerhaft vorhanden ist.

Der EuGH musste sich mit Fragen zur Höchstüberlassungsdauer bei Zeitarbeit befassen

Der EuGH begründet mit verschiedenen  Argumenten, dass die Beschäftigung eines Zeitarbeiters auf einem dauerhaft vorhanden Arbeitsplatz Art. 1 Abs. 1 der RL 2018/104/EG nicht entgegensteht.

Schon der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 und insbesondere das Wort „vorübergehend“ definiert nicht den zu besetzenden Arbeitsplatz. Es kennzeichnet lediglich die Modalitäten der Überlassung des Zeitarbeiters. Da keine Bestimmung der RL 2018/104/EG die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes oder einen numerus clausus an zulässigen Fallgestaltungen festlegt, kommt die systematische Auslegung zu demselben Ergebnis. Darüber hinaus stehen auch die in Art. 2 genannten Ziele der Richtlinie, wie die Entwicklung flexibler Arbeitsformen, dieser Auslegung nicht entgegen.

Welche Höchstüberlassungsdauer besteht bei aufeinander folgenden Überlassungen eines Zeitarbeiters auf demselben Arbeitsplatz beim Entleiher?

Mit der nächsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob aufeinander folgende Überlassungen eines Zeitarbeiters auf demselben Arbeitsplatz bei demselben Entleiher für eine Dauer von 55 Monaten noch als vorübergehend im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der RL 2018/104/EG angesehen werden können.

Der EuGH führt zur Beantwortung dieser Frage aus, dass die Richtlinie nicht primär die Festlegung einer Höchstüberlassungsdauer für Zeitarbeiter bezweckt. Des Weiteren verpflichtet Art. 5 Abs. 1 S.1 der RL 2018/104/EG die Mitgliedstaaten zwar Maßnahmen zur Verhinderung von missbräuchlichen Umgehungen der Richtlinie zu schaffen. Dies beinhaltet allerdings keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, nationales Recht mit einer Höchstüberlassungsdauer zu schaffen. Falls das nationale Recht eine Höchstüberlassungsdauer nicht festlegt, weist der EuGH darauf hin, dass das nationale Gericht dann jeden Einzelfall unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände, wie die Branchenbesonderheiten, entscheiden muss. Daher gibt es letztlich keine statische Grenze für eine Höchstüberlassungsdauer, sondern diese ist bei jedem Einzelfall individuell zu bestimmen.

Darf eine vor dem 1. April 2017 stattgefundene Überlassung eines Zeitarbeiter in die Höchstüberlassungsdauer einbezogen werden?

Weiterhin bat das vorlegende Gericht um Klärung im Hinblick darauf, ob auch Überlassungen von Zeitarbeitern auf demselben Arbeitsplatz an dasselbe Unternehmen vor dem 1. April 2017 bei der Berechnung der Höchstüberlassungsdauer im Sinne des § 1 Abs. 1b AÜG berücksichtigt werden können.

Dem EuGH zufolge ist das Außerachtlassen von Überlassungen vor dem 1. April 2017 mit der RL 2018/104/EG unter bestimmten Umständen unvereinbar. Dies ist der Fall, wenn der dem Zeitarbeiter wegen missbräuchlicher Überlassung zustehende Schutz praktisch unwirksam wird. Daher muss das nationale Gericht die Möglichkeit haben, die tatsächliche Überlassungsdauer zu berücksichtigen. Aufgrund dessen muss die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG unionsrechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass der mit der RL 2018/104/EG bezweckte Schutz des Zeitarbeiters praktisch nicht leerläuft.

Hat der Zeitarbeiter unter bestimmten Umständen einen Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen?

Außerdem wollte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Zeitarbeiter bei Nichteinhaltung der RL 2018/104/EG und dem Fehlen von nationalen Sanktionen einen Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen hat.

Zunächst verweist der EuGH darauf, dass Art. 10 der RL 2018/104/EG die Festlegung der zur Erreichung der Ziele der Richtlinie geeigneten Sanktionen den Mitgliedstaaten überlässt. Daraus folgert der EuGH, dass es keinen sich unmittelbar aus dem Unionsrecht ergebenden Anspruch des Zeitarbeiters auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen gibt.

Können die Tarifvertragsparteien eine Ausdehnung der individuellen Höchstüberlassungsdauer für Zeitarbeiter vereinbaren?

Mit der letzten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Tarifvertragsparteien eine Ausdehnung der individuellen Höchstüberlassungsdauer für Zeitarbeiter vereinbaren können. Sofern dies zu bejahen ist, fragt das vorlegende Gericht weiter, ob dies auch für Tarifvertragsparteien gilt, die für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind.

Der EuGH führt dazu aus, dass die RL 2018/104/EG diesbezüglich keine Regelungen trifft. Daher steht die Richtlinie einer Ausdehnung der individuellen Höchstüberlassungsdauer für Zeitarbeiter durch Tarifvertragsparteien, die für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind, nicht entgegen. Vielmehr wird die Entscheidung darüber den Mitgliedstaaten überlassen.

Fazit: Kein Anspruch von Zeitarbeitern auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen aus der Richtlinie

Das Urteil macht deutlich, dass sich aus dem Unionsrecht kein Anspruch des Zeitarbeiters auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ergibt. Dies gilt auch dann, wenn es sich um eine missbräuchliche Überlassung handelt, die national nicht sanktionierbar ist. Nichtsdestotrotz sollten entleihende Unternehmen bedenken, dass die Dauer der Überlassung vor dem 1. April 2017 in die Berechnung der Höchstüberlassungsdauer entgegen § 19 Abs. 2 ÄÜG einzubeziehen ist, wenn ansonsten der Schutz des Zeitarbeiters durch die RL 2018/104/EG leerläuft. Zugleich hat der EuGH entschieden, dass die Zeitarbeiter auch auf Dauerarbeitsplätzen eingesetzt werden dürfen.

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