Freie Mitarbeit oder abhängige Beschäftigung eines Gesellschafter-Geschäftsführers? BSG-Urteil B 12 BA 4/22 R

Die Deutsche Rentenversicherung stellte fest, dass der Geschäftsführer abhängig beschäftigt war

Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Juli 2023 behandelt die Frage, ob der Beigeladene in seiner Tätigkeit für die Rechtsvorgängerin der Klägerin zwischen dem 15. April 2015 und dem 30. April 2017 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Das Urteil ist von erheblicher Bedeutung für die Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung im Sozialversicherungsrecht und stellt wesentliche Leitlinien für Dreiecksverhältnisse zwischen juristischen Personen und natürlichen Personen auf.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine GmbH, war durch eine Verschmelzung mit ihrer Schwestergesellschaft aus einer Firma hervorgegangen, die Fotoprodukte herstellte und vertrieb. Der Beigeladene, der Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter einer von ihm gegründeten Unternehmergesellschaft (UG) war, schloss im Namen der UG mit der Rechtsvorgängerin der Klägerin einen Vertrag über eine Dienstleistung. Diese Vereinbarung diente dazu, die Klägerin im Vertrieb und in der Optimierung vertrieblicher Strukturen zu unterstützen. Der Vertrag wurde formal zwischen der UG und der Klägerin geschlossen. Der Beigeladene führte die vereinbarten Tätigkeiten persönlich aus, darunter die Pflege von Kundenkontakten, das Einwerben von Aufträgen und die Schulung von Vertriebsmitarbeitern.

Die Beklagte, die Deutsche Rentenversicherung, stellte auf Antrag der UG und der Klägerin fest, dass der Beigeladene in seiner Tätigkeit bei der Klägerin sozialversicherungspflichtig war, da es sich um eine abhängige Beschäftigung handelte. Diese Entscheidung wurde von der Klägerin angefochten, da sie argumentierte, der Beigeladene sei nicht in die Arbeitsorganisation der Klägerin eingegliedert gewesen und habe eigenständig agiert.

Das Sozialgericht wies die Klage ab und das Landessozialgericht wies die Berufung zurück. Die Klägerin verfolgte ihre Revision beim BSG weiter.

Entscheidung des BSG

Versicherungspflichtige Beschäftigung

Das BSG entschied, dass der Beigeladene in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis zur Klägerin stand und daher der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Maßgeblich für diese Bewertung war § 7 Abs. 1 SGB IV, der die Kriterien für eine Beschäftigung definiert. Das Gericht betonte, dass der Beigeladene in den Betrieb der Klägerin eingegliedert war, deren Weisungen unterlag und kein unternehmerisches Risiko trug. Auch wenn die vertragliche Beziehung formal zwischen der UG und der Klägerin bestand, zeigten die tatsächlichen Umstände, dass der Beigeladene abhängig beschäftigt war.

Keine erlaubte Arbeitnehmerüberlassung

Das BSG stellte zudem fest, dass keine erlaubte Arbeitnehmerüberlassung im Sinne des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) vorlag. Der Vertrag zwischen der UG und der Klägerin zielte nicht auf eine Arbeitnehmerüberlassung ab, und die UG besaß auch keine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung. Zudem war der Beigeladene nicht Arbeitnehmer der UG, sondern handelte als Geschäftsführer und Alleingesellschafter. Eine Arbeitnehmerüberlassung setzt voraus, dass Arbeitnehmer für eine begrenzte Zeit einem Dritten zur Verfügung gestellt werden, was hier nicht der Fall war.

Rechtsfolgen einer unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung

Das BSG erläuterte weiter, dass eine unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung gemäß § 10 Abs. 1 AÜG zur Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Entleiher führen kann. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die überlassene Person tatsächlich Arbeitnehmer des Verleihers ist, was im Fall des Beigeladenen als Alleingesellschafter und Geschäftsführer der UG nicht zutraf. Das Gericht ließ offen, ob diese Regelung auch auf Fälle der Selbstüberlassung eines Alleingesellschafters anwendbar ist, da es in diesem Fall nicht um ein fingiertes Arbeitsverhältnis ging, sondern um die sozialversicherungsrechtliche Einstufung der Tätigkeit des Beigeladenen. Der Begriff der Beschäftigung umfasst nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV „insbesondere“ die Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis und geht daher schon nach dem Wortlaut der Vorschrift über dieses hinaus.

Eingliederungstheorie und Umgehung der Sozialversicherungspflicht

Das BSG betonte, dass die Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Klägerin der entscheidende Faktor für die Beurteilung der Beschäftigung war. Der Beigeladene führte seine Aufgaben unter Nutzung der Infrastruktur der Klägerin aus, erhielt Weisungen vom Geschäftsführer und war in die betrieblichen Abläufe der Klägerin integriert. Der Versuch der Klägerin, die Sozialversicherungspflicht durch die Zwischenschaltung der UG zu umgehen, wurde vom Gericht als unzulässig bewertet. Die formale Vertragsgestaltung zwischen der UG und der Klägerin konnte die tatsächlichen Verhältnisse nicht überlagern.

Bedeutung des Urteils

Das Urteil hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis, insbesondere in Fällen, in denen juristische Personen als Vertragspartner zwischengeschaltet werden, um vermeintlich selbstständige Tätigkeiten zu ermöglichen. Es verdeutlicht, dass nicht die formale Vertragsgestaltung, sondern die tatsächliche Ausführung der Tätigkeit und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation entscheidend für die sozialversicherungsrechtliche Bewertung sind. Auftraggeber müssen besonders darauf achten, dass bei der Beauftragung von Dienstleistern keine versteckte abhängige Beschäftigung vorliegt, um Risiken im Zusammenhang mit der Sozialversicherung zu vermeiden. Das Urteil stärkt die Position der Sozialversicherungsträger und schützt vor Umgehungstatbeständen, indem es die Eingliederungstheorie weiter konkretisiert.

Fazit

Das BSG-Urteil unterstreicht, dass die tatsächliche Arbeitsausführung und -organisation über die formalen Vertragsbeziehungen entscheiden. Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass sie genau prüfen müssen, ob Dienstleister wirklich selbstständig sind oder als abhängig Beschäftigte gelten, insbesondere wenn diese stark in die Betriebsabläufe integriert sind. Für Geschäftsführer von Ein-Personen-Gesellschaften bedeutet dies, dass auch bei formaler Selbstständigkeit eine Versicherungspflicht in der Sozialversicherung bestehen kann, wenn die Tätigkeit beim Auftraggeber als abhängige Beschäftigung ausgeführt wird.

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