Fiktive Hochrechnung von Sozialversicherungsbeiträgen für Entleiher, LSG Baden-Württemberg Urteil – L 11 BA 2873/19
Sachverhalt: Können von einem Entleiher fiktive höhere Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachgefordert werden?
Gegenstand des Falles ist die Haftung des Entleihers für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für Zeitarbeiter aufgrund der Arbeitgeberfiktion nach § 10 AÜG.
Der Kläger ist Dachdecker- und Zimmermeister, der eine Bedachungsfirma betreibt. Die Firma A. Personal Dienstleistungen UG (APL) überließ dem Kläger im Jahr 2012 vier Leiharbeitnehmer, ohne über eine Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) zu verfügen.
Wegen eines zumindest fahrlässigen Verstoßes gegen Vorschriften des AÜG erließ das Hauptzollamt gegen den Kläger einen Bußgeldbescheid in Höhe von 7.161,48 €, der vom Amtsgericht auf 3.000 € reduziert wurde.
Gleichwohl verlangte die Beklagte (die Deutsche Rentenversicherung) vom Kläger aufgrund einer Betriebsprüfung eine Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 8.023,22 €. Im Hinblick auf die illegale Arbeitnehmerüberlassung gelte der Kläger als Arbeitgeber (§ 9 Nr 1 iVm § 10 Abs 1 Nr 1 AÜG) und hafte entsprechend für die Beiträge. Die Deutsche Rentenversicherung war der Ansicht, die Abrechnungen seien von APL bewusst verkürzt worden, um Sozialversicherungsbeiträge einzusparen. In so einem Fall sei stets von einer Nettolohnabrede auszugehen. Da es hinsichtlich der Arbeitgeberfiktion nach § 10 AÜG auf kein Verschulden ankomme, sei eine Netto-Brutto-Hochrechnung gegenüber dem Kläger als Entleiher durchzuführen.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, ihm sei nicht bekannt gewesen, dass die APL mit krimineller Energie ein Unternehmen ohne Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung betrieben habe. Entsprechend habe man ihm das Bußgeld auch nur wegen fahrlässigen Verhaltens auferlegt.
Nachdem der Widerspruch zurückgewiesen wurde, erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn. Der Kläger wendete sich gegen die Netto-Brutto-Hochrechnung und wollte nur insoweit Beiträge zahlen, wie sie sich aus den tatsächlich festgestellten Entgelten ergeben.
Das Sozialgericht sah die Netto-Brutto-Hochrechnung rechtswidrig und verpflichtete die Deutsche Rentenversicherung zur Rückzahlung des Hochrechnungsbeitrages. Dagegen legte die Deutsche Rentenversicherung die Berufung ein.
Entscheidung des LSG Baden-Württemberg: Verpflichtung des Entleihers zur Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags auf der Grundlage einer fiktiven Hochrechnung
Das LSG Baden-Württemberg kam zu dem Ergebnis, dass der Entleiher/Kläger als Arbeitgeber der Leiharbeiter zur Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrags verpflichtet ist. Die Beitragsbemessung durfte auf der Grundlage einer fiktiven Hochrechnung nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV erfolgen.
Zwischen dem Entleiher und den Leiharbeitern bestand ein Arbeitsverhältnis nach § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG. Nach dieser Bestimmung gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem zur Arbeitsleistung überlassenen Arbeitnehmer als zustande gekommen, wenn der Vertrag zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer unwirksam ist. Dies ist nach § 9 Nr 1 AÜG dann der Fall, wenn der Verleiher nicht über die nach dem AÜG zur Arbeitnehmerüberlassung erforderliche Erlaubnis verfügt. Dies war der Fall, denn die APL besaß keine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG. Hierbei ist es irrelevant, ob der Kläger Kenntnis davon hatte, dass die APL nicht im Besitz einer Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG war. Die Fiktionswirkung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AÜG tritt nämlich unabhängig vom Willen oder von der Kenntnis der Beteiligten ein.
Kein höherer Anspruch der Leiharbeiter auf Arbeitsentgelt
Ein Anspruch der Leiharbeiter auf Arbeitsentgelt bestand jedoch nur in Höhe der tatsächlich gezahlten Beträge. Ebenso besteht kein höherer Anspruch auf Arbeitsentgelt nach dem Grundsatz des equal-pay gemäß § 10 Abs. 4 AÜG. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann auch nicht unter Hinweis auf ein nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV hypothetisch hochgerechnetes Bruttoarbeitsentgelt von einem höheren Anspruch der Leiharbeiter auf Arbeitsentgelt ausgegangen werden. Insoweit besteht auch nicht die Gefahr, dass gegenüber APL und dem Kläger unterschiedlich hohe Lohnansprüche der Leiharbeiter bestehen würden.
Unterschiedliche Höhe der Haftung von Verleiher und Entleiher
Sehr wohl besteht aber die Möglichkeit, dass Verleiher und Entleiher für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag in unterschiedlicher Höhe haften. In diesem Sinne kam das LSG zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen zur Anwendung des § 14 Abs 2 Satz 2 SGB IV hinsichtlich einer Beitragsfestsetzung gegenüber dem Kläger erfüllt sind, weil der Kläger vorsätzlich handelte.
Zwar kann der auf Seiten der APL angesichts der kriminellen Vorgehensweise bestehende Vorsatz dem Kläger nicht zugerechnet werden. Das LSG ist jedoch davon überzeugt, dass der Kläger selbst zumindest mit bedingtem Vorsatz handelte.
Objektiv lag ein illegales Beschäftigungsverhältnis wegen des Verstoßes gegen § 1b Satz 1 AÜG vor. Danach ist Arbeitnehmerüberlassung nach § 1 in Betrieben des Baugewerbes für Arbeiten, die üblicherweise von Arbeitern verrichtet werden, unzulässig. Eine nach § 1b Satz 2 AÜG erlaubte Arbeitnehmerüberlassung zwischen Baubetrieben derselben Branche lag nicht vor.
Ferner handelte der Kläger mindestens bedingt vorsätzlich, weil er seine Beitragspflicht für möglich gehalten und die Nichtabführung der Beiträge billigend in Kauf genommen hat. Außerdem war es dem Kläger durchaus bewusst, dass die Firma APL kein Bauunternehmen ist, sondern Personalvermittler. Er wollte eigentlich Werkverträge schließen. Entsprechende Werkverträge wurden jedoch nicht abgeschlossen.
Fazit: Die Notwendigkeit eines korrekten Einsatzes der Arbeitnehmerüberlassung
Das Urteil zeigt deutlich die rechtlichen Risiken auf, falls Arbeitnehmerüberlassung nicht korrekt ausgeübt wird. Werden Leiharbeitnehmer eingesetzt, hat der Entleiher daher stets sicher zu stellen, dass eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis vorliegt. Erfolgt eine solche Kontrolle nicht, unterstellt die Rechtsprechung grundsätzlich bedingten Vorsatz bezüglich der Kenntnis des Fehlens einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis. Fehlt eine gültige Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis, wird der mit (bedingtem Vorsatz) handelnde Entleiher Arbeitgeber der Zeitarbeiter und haftet unter anderem auch insbesondere für Sozialversicherungsbeiträge. Außerdem ist es rechtlich zulässig, dass die Deutsche Rentenversicherung eine fiktive Hochrechnung des Arbeitsentgelts durchführt und daraus fiktive höhere Sozialversicherungsbeiträge für den Entleiher errechnet. Eine Kontrolle des Verleihunternehmens ist also in jedem Fall geboten.

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