Bindungswirkung einer rückwirkend erstellten Entsendebescheinigung, Begriff einer Person, die eine andere Person ablöst, EuGH Urteil, C-527/16

Sachverhalt

Alpenrind ist im Geschäftszweig der Vieh- und Fleischvermarktung tätig. Seit dem Jahr 1997 betreibt sie in Salzburg einen gepachteten Schlachthof.

Im Ausgangsverfahren wurden die Arbeitnehmer von der in Ungarn ansässigen Martin-Meat in den Jahren 2007 bis 2012 nach Österreich entsandt, um in den Räumlichkeiten von Alpenrind Fleischzerlegungsarbeiten auszuführen. Vom 1. Februar 2012 bis zum 31. Januar 2014 wurden Arbeitnehmer von der ebenfalls in Ungarn ansässigen Martimpex zur Ausführung derselben Arbeiten nach Österreich entsandt. Ab 1. Februar 2014 wurden diese Arbeiten erneut von Arbeitnehmern von Martin-Meat in denselben Räumlichkeiten ausgeführt.

Für die im streitgegenständlichen Zeitraum von Martimpex beschäftigten mehr als 250 Mitarbeiter stellte der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger – teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits festgestellt hatte, dass der betreffende Arbeitnehmer nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert sei – Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit aus.

Während das österreichische Verwaltungsgericht aufgrund der Bindungswirkung der A1-Bescheinigung den Beschluss des österreichischen Sozialversicherungsträger über die Pflichtversicherung in Österreich aufhob, wendeten sich die Salzburger Gebietskrankenkasse und der Bundesminister in der Revision gegen die Hypothese einer absoluten Bindungswirkung der A1-Bescheinigungen.

Vorlage beim EuGH

Da sich bei dem vom Verwaltungsgerichtshof zu beurteilenden Rechtsstreit bestimmte Fragen der Auslegung des Unionsrechts stellten, legte er sie dem EuGH vor.

Unter anderem fragte der Verwaltungsgerichtshof den EuGH,

  • ob die Bindungswirkung einer A1-Bescheinigung auch dann gilt, wenn diese rückwirkend ausgestellt wird, nachdem der Aufnahmemitgliedstaat formell die Pflichtversicherung nach seinen Rechtsvorschriften festgestellt hat, sowie
  • ob es dem in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltenen Ablöseverbot widerspricht, wenn die Ablöse nicht in Form einer Entsendung durch denselben Dienstgeber erfolgt, sondern durch einen weiteren Dienstgeber

Bindungswirkung einer rückwirkend ausgestellten A1-Bescheinigung

Zu Beantwortung dieser Frage wies der EuGH auf die VO Nr. 574/72 hin. Danach kann die im Einklang mit Art. 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E 101- Bescheinigung Rückwirkung haben. Insbesondere kann eine solche Bescheinigung, auch wenn ihre Ausstellung besser vor Beginn des betreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeitraums und sogar nach dessen Ablauf ausgestellt werden.

In Bezug darauf stellte der EuGH fest, dass der aus den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 bestehenden Unionsregelung sich kein Hinderungsgrund für eine entsprechende Handhabung auch bei den A1-Bescheinigungen entnehmen lässt.

Aus diesem Grund ist Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

Ablöseverbot durch eine andere entsandte Person

Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 hatte zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums folgenden Wortlaut: „Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst.“

Während des streitgegenständlichen Zeitraums wurde Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 vom 22. Mai 2012 geändert, wobei am Ende dieses Absatzes die Worte „andere Person“ durch „andere entsandte Person“ ersetzt wurden.

Aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und insbesondere aus dem Wort „sofern“ geht dabei hervor, dass ein entsandter Arbeitnehmer schon deshalb, weil er eine andere Person ablöst, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann und dass das Ablöseverbot kumulativ neben der ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzung in Bezug auf die Höchstdauer der betreffenden Arbeit anwendbar ist.

Sonderregelung und Regelfall

Dabei stellen die im Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Regeln „Sonderregelungen“ für die Bestimmung der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit dar. Im Regelfall gemäß Art. 11 Abs. 3 der VO 883/2004 unterliegen Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.

Unzulässiger Einsatz entsandter Arbeitnehmer zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes

Im vorliegenden Fall entschied der EuGH, dass der wiederholte Einsatz entsandter Arbeitnehmer zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes, auch wenn verschiedene Arbeitgeber die Entsendungen vornehmen, weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vereinbar ist und auch nicht mit dem Kontext dieser Bestimmung im Einklang steht, so dass eine entsandte Person die dort vorgesehene Sonderregel nicht in Anspruch nehmen kann, wenn sie einen anderen Arbeitnehmer ablöst.

Daher ist Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“. Aus diesem Grund kann er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

Fazit

Wenn Unternehmen, bei denen entsandte Arbeitnehmer für die gleichen Arbeiten pausenlos beschäftigt werden, Risiken vermeiden möchten, sollten sie unabhängig davon, ob für diese Arbeitnehmer Entsendebescheinigungen erstellt wurden oder nicht, darauf drängen, dass diese Arbeitnehmer lieber in Deutschland versichert werden. In jedem Fall empfiehlt es sich dazu anwaltlichen Rat einzuholen.