Wegfall der Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen, EuGH Urteil vom 6.02.2018 – C-359/16
Sachverhalt
Die Sozialaufsichtsbehörde in Belgien (Sociale Inspectie) führte bei einer im Bausektor in Belgien tätigen Gesellschaft (Absa) eine Prüfung hinsichtlich der Beschäftigung ihrer Belegschaft durch. Bei dieser Prüfung wurde festgestellt, dass Absa seit 2008 praktisch kein Personal beschäftigte und mit den Arbeiten auf sämtlichen Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmer betraute, die Arbeitnehmer nach Belgien entsandten. Ferner wurde festgestellt, dass diese Arbeitnehmer bei dem belgischen Träger, dem die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge obliegt, nicht angemeldet worden waren, da sie Bescheinigungen E 101 oder A 1 besaßen, die von dem von der zuständigen bulgarischen Behörde gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 benannten Träger ausgestellt worden waren.
Eine gerichtliche Untersuchung ergab, dass diese bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte geschäftliche Tätigkeit ausübten.
Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Untersuchung stellte die belgische Sozialaufsichtsbehörde am 12. November 2012 beim zuständigen bulgarischen Träger einen mit Gründen versehenen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der Bescheinigungen E 101 bzw. A 1, die den entsandten Arbeitnehmern ausgestellt worden waren. Daraufhin antwortete der zuständige bulgarische Träger am 9. April 2013, dass die verschiedenen bulgarischen Unternehmen zum Zeitpunkt der Ausstellung dieser Bescheinigungen die Vorrausetzungen der Entsendung administrativ erfüllt hätten. In dieser Antwort wurden jedoch die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen nicht berücksichtigt.
Das eingeleitete Strafverfahren
Die belgischen Behörden leiteten Strafverfahren gegen die Angeklagten des Ausgangsverfahrens in deren Eigenschaft als Arbeitgeber, Hilfspersonen oder Beauftragte ein, weil sie
- ausländische Staatsangehörige, die nicht berechtigt gewesen seien, sich länger als drei Monate in Belgien aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, ohne Arbeitserlaubnis beschäftigt oder ihre Beschäftigung ohne Arbeitserlaubnis zugelassen hätten,
- beim Arbeitsbeginn der Arbeitnehmer nicht die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung bei der für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zuständigen Stelle vorgenommen hätten und
- die Arbeitnehmer nicht beim Landesamt für soziale Sicherheit in Belgien (Rijksdienst voor Sociale Zekerheid) versichert hätten.
Die betrügerisch erwirkten Bescheinigungen E 101 bzw. A 1
Während das belgische Strafgericht die Angeklagten von den gegen sie erhobenen Vorwürfen mit der Begründung freisprach, dass die „Beschäftigung der bulgarischen Arbeitnehmer vollständig durch die ordnungsgemäß und rechtmäßig ausgestellten Bescheinigungen E 101/A 1 gedeckt“ sei, war das belgische Berufungsgericht der Auffassung, dass die belgischen Gerichte nicht an die Bescheinigungen E 101 oder A 1 gebunden seien, weil sie betrügerisch erwirkt worden seien.
Dagegen erhoben die Angeklagten eine Kassationsbeschwerde. Der Kassationsgerichtshof entschied, das Verfahren auszusetzen und im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH eine Frage vorzulegen.
Frage zur Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71
Mit seiner Frage wollte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen sind, dass, wenn ein Arbeitnehmer eines in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, ein Gericht des letztgenannten Mitgliedstaats eine gemäß der zweitgenannten Bestimmung ausgestellte Bescheinigung E 101 außer Acht lassen kann, wenn ihm der Sachverhalt, über den es zu befinden hat, die Feststellung erlaubt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde.
Anwendung des Systems der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats
Der EuGH entschied, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, zu denen Art. 14 dieser Verordnung gehört, den Zweck verfolgen, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Europäischen Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen. Dazu wird aus dem Art. 13 Abs. 2 Buchst. A der Verordnung Nr. 1408/71 deutlich, dass ein Arbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet er beschäftigt ist. Dabei gilt jedoch dieser Grundsatz nur, soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen. Generell könnte die ausnahmslose Anwendung zur Schaffung statt zur Vermeidung administrativer Schwierigkeiten führen, die eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Personen bewirken würden.
Laut dem Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.
Allerdings wurde die oben genannte Norm im Wesentlichen durch Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt, wonach „eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, … weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst“.
Zwei Voraussetzungen einer Entsendung
Für die Anwendung dieser Vorschriften müssen jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer, der von diesem Unternehmen in einen anderen Mitgliedstaat entsendet wird, während der Dauer seiner Entsendung erhalten bleiben. Zweitens muss das Unternehmen im Mitgliedstaat, in dem es seine Betriebsstätte hat, gewöhnlich eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausüben.
Ebenso wie die materiell-rechtliche Regelung im Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung 1408/71 soll die Bescheinigung E 101 bzw. A 1 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Dienstleistungsfreiheit fördern.
In dieser Bescheinigung erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen, das die betreffenden Arbeitnehmer beschäftigt, seine Betriebsstätte hat, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf diese Arbeitnehmer anwendbar bleibt. Wegen des Grundsatzes, dass die Arbeitnehmer einem einzigen System der sozialen Sicherheit unterliegen sollen, hat diese Bescheinigung damit notwendig zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaats nicht angewandt werden kann.
Dabei verpflichtet der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV den ausstellenden Träger, den Sachverhalt, der für die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbaren Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung E 101 aufgeführten Angaben zu gewährleisten.
Ebenso würde der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit ausgeführt wird, seine Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV verletzen – und die Ziele von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 verfehlen –, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung E 101 gebunden sähe und diese Arbeitnehmer zusätzlich seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellte.
Bindung der Entsendebescheinigung
Solange eine Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, hat der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass dieser bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist.
Allerding erfordert der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass jeder Träger eines Mitgliedstaats eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vorzunehmen hat. Außerdem dürfen die Träger der anderen Mitgliedstaaten berechtigterweise erwarten, dass der Träger des betroffenen Mitgliedstaats dieser Pflicht nachgekommen ist.
Zweifel an der Richtigkeit der Entsendebescheinigung
Wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt, jedoch Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts hat, muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 bzw. A 1 ausgestellt hat, überprüfen, ob die Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und diese Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen.
Der bindende Charakter der Bescheinigung E 101 bzw A 1 und die ausschließliche Zuständigkeit des ausstellenden Trägers für die Beurteilung der Gültigkeit dieser Bescheinigung wurden in der derzeit geltenden Verordnung 987/2009 verankert.
Verbot von Betrug und Rechtsmissbrauch
Allerdings dürfen diese Erwägungen jedoch nicht dazu führen, dass sich die Rechtsunterworfenen in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch. Danach kann die Anwendung der Unionsrechtsvorschriften nämlich nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen.
Zwei Elemente eines Betrugs in Bezug auf eine Entsendung
Die Feststellung eines Betrugs bezieht sich auf das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements. Während das objektive Element in der Nichterfüllung der Vorrausetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101 bzw. A 1 besteht, setzt sich das subjektive Element aus der Absicht der Betreffenden zusammen, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigungen zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen.
Schließlich kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass der ausstellende Träger gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit erneut zu prüfen hat, ob die Ausstellung der Bescheinigungen zu Recht erfolgt ist, wenn der Träger des Mitgliedstaates, in den Arbeitnehmer entsendet wurden, dem ausstellenden Träger konkrete Beweise vorlegt, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden. In dem Fall erfolgt eine solche erneute Prüfung anhand dieser Beweise.
Wenn der ausstellende Träger jedoch nicht innerhalb einer angemessenen Frist diese Prüfung durchführt, kann das nationale Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung derartiger Bescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.
Fazit
Um Risiken zu vermeiden sollten die deutschen Unternehmen, die auf die Zusammenarbeit mit Subunternehmen aus anderen EU-Ländern zugreifen, die ihre Arbeitnehmer nach Deutschland entsendet, sich versichern, dass die Entsendebescheinigungen für diese Personen richtig erstellt wurden. Anderenfalls drohen für alle Beteiligte unerfreuliche Folgen. Um sich abzusichern, wäre es empfehlenswert für die betroffenen Firmen einen anwaltlichen Rat einzuholen. Bei allen Fragen steht unsere Kanzlei mit Rat und Tat zur Verfügung.