Arbeitgeber von im internationalen Güterverkehr tätigen Lkw-Fahrern, EuGH Urteil vom 16.06.2020 – C-610/18

Sachverhalt: Wer ist Arbeitgeber von Lkw-Fahrern im internationalen Güterverkehr?

Im Ausgangsfall geht es um die Frage, welche sozialen Rechtsvorschriften für Lkw-Fahrer, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt sind, anzuwenden sind. 

Eine in Zypern gegründete Gesellschaft, die AFMB, schloss mit in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen Flottenmanagementverträge. Danach verpflichtete sich die AFMB gegen Zahlung einer Provision, die Verwaltung der von diesen Unternehmen im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit betriebenen Lastkraftwagen für deren Rechnung und auf deren Gefahr zu übernehmen. Ferner schloss die AFMB Arbeitsverträge mit im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrern mit Wohnsitz in den Niederlanden. In diesen Verträgen wurde die AFMB als Arbeitgeber dieser Arbeitnehmer bezeichnet und das zyprische Arbeitsrecht für anwendbar erklärt.

Wer ist Arbeitgeber von Lkw-Fahrern im internationalen Güterverkehr?

Die Lkw-Fahrer waren im internationalen Güterverkehr tätig. Sie übten keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeiten in den Niederlanden aus. Einige waren zudem zuvor bei den Transportunternehmen beschäftigt gewesen. Auch entschieden diese Transportunternehmen über den täglichen Einsatz der Lkw-Fahrer im Güterverkehr. Von ihnen hing auch die Einstellung oder Entlassung der Lkw-Fahrer ab.

Die AFMB ersuchte die Sozialversicherungsanstalt in Niederlanden (die Svb) um die Bestätigung, dass die im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrer, mit denen sie die Arbeitsverträge geschlossen hatte, nicht gemäß Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unter die niederländischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit fielen. Sie wies insoweit u. a. darauf hin, dass die zuständige zyprische Stelle für diese Fahrer keine A 1-Bescheinigungen ausstellen könne, solange die Svb nicht bestätigt habe, dass die niederländischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit auf die Fahrer nicht anwendbar seien.

Daraufhin erklärte die Svb jedoch die Rechtsvorschriften der Niederlande für diese Lkw-Fahrer anwendbar und stellte entsprechende A 1-Bescheinigungen aus. Dagegen gingen die AFMB und die Lkw-Fahrer gerichtlich vor.

Letztendlich setzte das Berufungsgericht das Verfahren aus und legte die Sache dem EuGH vor.

Die Anwendung von sozialen Rechtsvorschriften regelt die Verordnung (EG) Nr. 883/2004, die die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ersetzt hatte. Das vorlegende Gericht wies darauf hin, dass diese Verordnungen weder den Begriff „Arbeitgeber“ definierten, noch zu diesem Zweck auf die nationalen Rechtsvorschriften verwiesen. In diesem Zusammenhang legte das Berufungsgericht dem EuGH unter anderem die Frage vor, ob Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass Arbeitgeber eines im internationalen Güterkraftverkehr tätigen Lkw-Fahrers 

  • das Transportunternehmen ist, das diesen Fahrer eingestellt hat, dem er tatsächlich uneingeschränkt zur Verfügung steht, das ihm gegenüber tatsächlich weisungsbefugt ist und das in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten zu tragen hat, 

oder 

  • das Unternehmen, mit dem dieser Fahrer einen Arbeitsvertrag geschlossen hat und das ihm seinen Lohn aufgrund einer mit dem Transportunternehmen getroffenen Vereinbarung zahlt.

Entscheidung des EuGH: Der tatsächliche Arbeitgeber von Lkw-Fahrern im Güterverkehr sind die Transportunternehmen

Nach Art. 13 Abs. 1 b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterliegt eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt und die in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Damit stellte sich die Frage, wer der Arbeitgeber der Lkw-Fahrer ist, die AFMB, mit der formal ein Arbeitsvertrag geschlossen wurde, oder die Transportunternehmen?

Quelle: Foto: Gerichtshof der Europäischen Union, Großer Sitzungssaal. EuGH: Maßgeblich ist, wer als Arbeitgeber gegenüber den Lkw-Fahrern im Güterverkehr auftritt

In Bezug auf den Arbeitgeberbegriff führte der EuGH aus, dass der Abschluss eines Arbeitsvertrags zwischen dem Arbeitnehmer und einem Unternehmen zwar ein Indiz für das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen Ersterem und Letzterem sein kann. Dieser Umstand allein erlaubt jedoch nicht den Schluss auf das Bestehen eines solchen Verhältnisses. Für einen solchen Schluss sind nämlich nicht nur die formal im Arbeitsvertrag enthaltenen Informationen zu berücksichtigen. Relevant ist die Art und Weise, in der die Pflichten des Arbeitnehmers und des betreffenden Unternehmens im Rahmen dieses Vertrags praktisch erfüllt werden. Unabhängig vom Wortlaut der Vertragsunterlagen ist es daher notwendig, die Stelle zu ermitteln, der der Arbeitnehmer tatsächlich untersteht. Diese hat in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten zu tragen und ist tatsächlich befugt, diesen Arbeitnehmer zu entlassen.

Daher kam der EuGH im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass Arbeitgeber eines im internationalen Güterverkehr tätigen Lkw-Fahrers das Transportunternehmen ist. Dieses ist dem Fahrer gegenüber tatsächlich weisungsbefugt. Es trägt in Wirklichkeit die entsprechenden Lohnkosten. Es ist auch tatsächlich befugt, ihn zu entlassen. Kein Arbeitgeber ist das Unternehmen, mit dem der Fahrer einen Arbeitsvertrag geschlossen hat und das in diesem Vertrag formal als Arbeitgeber des Fahrers angegeben ist.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die betroffenen Lkw-Fahrer durch Arbeitsverträge mit der AFMB verbunden waren, in denen die AFMB als ihre Arbeitgeberin benannt und das zyprische Arbeitsrecht für anwendbar erklärt wurde.

Dennoch waren diese Lkw-Fahrer, die stets ihren Wohnsitz in den Niederlanden beibehielten, vor Abschluss der Arbeitsverträge mit der AFMB von den Transportunternehmen selbst ausgewählt worden. Außerdem übten die Lkw-Fahrer nach Abschluss dieser Verträge ihre berufliche Tätigkeit für Rechnung und auf Gefahr dieser Transportunternehmen aus. Auch wenn in den geschlossenen Flottenmanagementverträgen die AFMB mit der Verwaltung der Lastkraftwagen betraut wurde und sie für die Lohnabrechnung zuständig war, wurde die tatsächliche Lohnbelastung in Wirklichkeit über die an die AFMB gezahlte Provision von den Transportunternehmen getragen. Darüber hinaus hätte die Entscheidung eines Transportunternehmens, die Dienste eines Lkw-Fahrers nicht mehr in Anspruch zu nehmen, in der Regel die sofortige Entlassung dieses Fahrers durch die AFMB zur Folge, so dass das Transportunternehmen tatsächlich befugt war, den Fahrer zu entlassen.

Aus den vorstehenden Ausführungen erklärte der EuGH, dass die Lkw-Fahrer offensichtlich zum Personal der Transportunternehmen gehörten und diese ihr Arbeitgeber waren. Daher dürften die niederländischen Rechtsvorschriften anwendbar sein. Dies zu klären ist jedoch die Sache des nationalen Gerichts.

Fazit: Ein Arbeitgeber hat auch in Wirklichkeit Funktionen eines Arbeitgebers auszuüben

Aus dem Urteil des EuGH wird deutlich, dass ein Arbeitsvertrag kein ausreichendes Indiz für ein Arbeitsverhältnis darstellt. Vielmehr muss ein Arbeitgeber auch tatsächlich die Funktionen eines Arbeitgebers ausüben. Zu solchen Funktionen zählen die tatsächliche Weisungsbefugnis, die Lohnabrechnung und die Entlassungsbefugnis. Wenn man Lkw-Fahrer entsendet, sollte man darauf achten, dass der vertragliche Arbeitgeber auch in Wirklichkeit Funktionen eines Arbeitgebers erfüllt. Anderenfalls kommt es zu Missverständnissen bei der Anwendung der sozialen Rechtsvorschriften, wenn Lkw-Fahrer in zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig sind. Dies führt zu hohen Nachzahlungen von Sozialabgaben.

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