Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses – Verlust des nicht genommenen Jahresurlaubs laut dem nationalen Recht, EuGH Urteil vom 6.11.2018 – C-619/16
Im vorliegenden Fall streiten die Parteien um die Zahlung einer finanziellen Vergütung für den vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.
Rechtsgrundlage
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
Nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 darf der bezahlte Mindestjahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.
§ 9 Abs. 2 der Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter vom 26. Aptil 1988 (folgend EUrlVO) schreibt vor, dass der Urlaub grundsätzlich im Urlaubsjahr abgewickelt werden soll und verfällt, wenn der Urlaub nicht innerhalb von zwölf Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres genommen worden ist.
Gemäß § 7 Abs. 4 BGB ist der Urlaub abzugelten, wenn er wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann.
Sachverhalt
Herr Kreuziger absolvierte vom 13. Mai 2008 bis 28. Mai 2010 als Rechtsreferendar beim Land Berlin seinen juristischen Vorbereitungsdienst in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis. Mit der erfolgreichen Ablegung seiner mündlichen Prüfung für das Zweite Staatsexamen am 28. Mai 2010 endeten der Vorbereitungsdienst und das Ausbildungsverhältnis beim Land Berlin.
Herr Kreuziger entschied sich dafür, in der Zeit vom 1. Januar 2010 bis zur Beendigung seiner Ausbildung keinen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen. Am 18. Dezember 2010 beantragte er, ihm für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub eine finanzielle Abgeltung zu gewähren. Dieser Antrag wurde zunächst mit Bescheid der Präsidentin des Kammergerichts vom 7. Januar 2011 und sodann nach Einlegung eines Widerspruchs mit Widerspruchsbescheid des Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamts der Länder Berlin und Brandenburg vom 4. Mai 2011 abgelehnt, da die EUrlVO einen solchen Abgeltungsanspruch nicht vorsehe, die Richtlinie 2003/88 nur für Arbeitnehmer gelte und deren Art. 7 Abs. 2 für die finanzielle Vergütung jedenfalls voraussetze, dass der Urlaub aus vom Arbeitnehmer nicht zu vertretenden Gründen nicht habe in Anspruch genommen werden können.
Herr Kreutziger erhob hiergegen Klage beim Verwaltungsgericht Berlin. Das Verwaltungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Tag der Beendigung des Arbeitsantragsverhältnisses verfallen sei, da Herr Kreutziger freiwillig davon abgesehen habe, einen Urlaub zu stellen, obwohl für ihn absehbar gewesen sei, dass sein Arbeitsverhältnis am 28. Mai enden werde.
Dagegen legte Herr Kreutziger Berufung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein. Das Oberverwaltungsgericht setzte das Verfahren aus und legte unter anderem folgende Frage dem EuGH vor:
Ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, wonach der Anspruch auf finanzielle Abgeltung bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen ist, wenn der Arbeitnehmer keinen Antrag auf Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs gestellt hat, obwohl ihm dies möglich war?
Ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts
Der EuGH beschloss in seinem Urteil, dass das Recht jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden.
Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union hat zudem nicht nur besondere Bedeutung, sondern ist auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zukommt, ausdrücklich verbürgt
Verpflichtung des Arbeitgebers zur förmlichen Aufforderung des Arbeitnehmers den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen
Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass der Arbeitgeber in Anbetracht des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten, u. a. verpflichtet ist, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll. Außerdem hat der Arbeitgeber klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugs- oder eines zulässigen Übertragungszeitraums oder am Ende des Arbeitsverhältnisses, wenn dies in einen solchen Zeitraum fällt, verfallen wird.
Beweislast beim Arbeitgeber
Die Beweislast trägt insoweit der Arbeitgeber. Kann er nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstieße das Erlöschen des Urlaubsanspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und gegen Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88.
Ein eigenständiger Verzicht des Arbeitnehmers auf den bezahlten Jahresurlaub
Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, und zeigt sich daher, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/88 dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen.
Aus den oben genannten Gründen antwortete der EuGH auf die ihm vorgelegte Frage, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, sofern sie dazu führt, dass der Arbeitnehmer, der vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, die ihm nach dem Unionsrecht bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für diesen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses wahrzunehmen.