A1-Bescheinigung gefälscht – und nun? EuGH Urteil C‑421/23

In seinem Urteil vom 23. Januar 2025 in der Rechtssache C‑421/23 legt der Europäische Gerichtshof (EuGH) wichtige Grundsätze zur Auslegung von Artikel 76 Absatz 6 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit fest. Gegenstand ist die Frage, wie nationale Behörden mit angeblich gefälschten A1-Bescheinigungen umzugehen haben – insbesondere im Kontext eines Strafverfahrens wegen Hinterziehung von Sozialabgaben.

Sachverhalt

EX, ein portugiesischer Unternehmer, hatte in den Jahren 2012 bis 2017 über mehrere Gesellschaften rund 650 Arbeitnehmer mit portugiesischer Staatsangehörigkeit beschäftigt und zur Arbeit auf Baustellen in Belgien entsandt.

Ist ein Dialog- und Vermittlungsverfahren im Falle der Entsendung mit gefälschten A1-Bescheinigungen notwendig?

Für diese Entsendungen wurden Dokumente verwendet, die wie A1-Bescheinigungen aussahen und vermeintlich vom zuständigen portugiesischen Sozialversicherungsträger gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellt worden waren.

Mit diesen Dokumenten sollte nach Artikel 19 Absatz 2 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 bestätigt werden, dass die betroffenen Arbeitnehmer während ihrer Entsendung weiterhin dem portugiesischen Sozialversicherungssystem unterlagen.

Die belgischen Behörden bezweifelten jedoch die Echtheit dieser Bescheinigungen. In einem Strafverfahren gegen EX wegen Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen stellten die belgischen Gerichte fest, dass die vorgelegten Dokumente gefälscht waren – ohne dass EX dieser Feststellung widersprochen hätte.

Das vorlegende Gericht wollte nun wissen, ob unter diesen Umständen die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und insbesondere das Dialog- und Vermittlungsverfahren nach Artikel 76 Absatz 6 Anwendung finden.

Vorlagefragen

Erste Frage:
Gilt die Verordnung Nr. 883/2004 auch dann, wenn entsandte Arbeitnehmer mit angeblich gefälschten A1-Bescheinigungen in einem anderen Mitgliedstaat tätig sind, für die dort Sozialversicherungsbeiträge an den Herkunftsstaat abgeführt werden, und in einem Strafverfahren festgestellt wurde, dass die Bescheinigungen nicht echt sind, ohne dass der Arbeitgeber dieser Einschätzung widerspricht?

Zweite Frage:
Mit seiner zweiten Frage wollte das vorlegende Gericht wissen, ob das Dialog- und Vermittlungsverfahren eine zwingende Voraussetzung dafür ist, dass ein nationales Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen Unternehmer wegen der Entsendung von Arbeitnehmern unter Verwendung gefälschter A 1-Bescheinigungen einen solchen Betrug feststellt.

Antworten des EuGH 

Antwort zur ersten Frage:
Der EuGH bestätigt, dass die Verordnung Nr. 883/2004 auch dann anwendbar bleibt, wenn A1-ähnliche Dokumente im Raum stehen, die sich später möglicherweise als Fälschungen herausstellen. Entscheidend ist, ob die betroffenen Personen grundsätzlich unter den Anwendungsbereich der Verordnung fallen – nicht, ob die vorgelegten Bescheinigungen tatsächlich echt sind.

Das bedeutet: Die Anwendung der Verordnung hängt nicht davon ab, ob die A1-Dokumente authentisch oder gefälscht sind – die Verordnung gilt weiterhin für den Fall als solchen.

Antwort zur zweiten Frage:
Die Behörden des Aufnahmestaates dürfen nicht einseitig und sofort handeln, selbst wenn sie der Auffassung sind, dass die A1-Bescheinigungen gefälscht sind. Wenn der Träger des Aufnahmestaates Zweifel an der Echtheit der Entsendebescheinigungen hat, ist er verpflichtet, ein Dialog- und Vermittlungsverfahren nach Artikel 76 Absatz 6 mit dem Träger des ausstellenden Mitgliedstaats einzuleiten.

Das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats darf sich im Rahmen eines Strafverfahrens gegen einen Arbeitgeber, der A 1-Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht haben soll, nur dann definitiv zum Vorliegen eines solchen Betrugs äußern und die Bescheinigungen außer Acht lassen, wenn es feststellt, dass unverzüglich das Dialog- und Vermittlungsverfahren eingeleitet wurde und dass der Träger, der die A  1-Bescheinigungen ausgestellt hat, es unterlassen hat, sie zu überprüfen und innerhalb einer angemessenen Frist zu den vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zu widerrufen. 

Folgen für betroffene Unternehmen

Dieses Urteil hat erhebliche Konsequenzen für Unternehmen, die Arbeitnehmer innerhalb der EU entsenden:

  • Unternehmen sollten sicherstellen, dass A1-Bescheinigungen authentisch, gültig und korrekt ausgestellt sind.
  • Gefälschte oder unvollständig geprüfte Bescheinigungen können nicht nur strafrechtliche, sondern auch sozialrechtliche Folgen haben.
  • Unternehmen sind gut beraten, interne Prüfmechanismen zu schaffen und sich nicht allein auf Dokumente zu verlassen, die wie A1-Bescheinigungen aussehen, aber möglicherweise nicht rechtmäßig erlangt wurden.

Fazit

Der EuGH stärkt mit diesem Urteil das Prinzip der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Bereich der sozialen Sicherheit innerhalb der EU. Er macht deutlich, dass Mitgliedstaaten bei Zweifeln an der Gültigkeit von A1-Bescheinigungen nicht einseitig handeln dürfen, sondern ein geregeltes Verfahren zur Klärung einleiten müssen. Gleichzeitig zeigt das Urteil auch: Der Missbrauch von A1-Bescheinigungen kann erhebliche rechtliche Konsequenzen für die betroffenen Unternehmen haben.

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